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Fürsorgeerziehung der 1950er - 70er Jahre

Im Jahr 2006 löste die Veröffentlichung von Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herrn - Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik“ ein starkes Medienecho aus. Besonders die Ereignisse und die Zustände in konfessionellen Fürsorgeerziehungseinrichtungen seit den 1950er bis in die 1970er Jahre wurden darin heftig kritisiert. Auch die Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, vor allem in der damaligen Teilanstalt Freistatt, geriet dadurch in den Fokus der Öffentlichkeit.

Der Vorstand der v. Bodelschwinghschen Anstalten (heute Stiftungen) Bethel erteilte daraufhin dem Institut für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal-Bethel einen Forschungsauftrag zur Freistätter Fürsorgeerziehung. Darin sollten die Vorwürfe wissenschaftlich untersucht, sowie die Erkenntnisse dargestellt und kritisch bewertet werden. Die aus heutiger Sicht außerordentlich harte, pädagogisch höchst fragwürdige Fürsorgeerziehung der 1950er/60er Jahre wurde mit den professionellen Methoden und Fragestellungen einer kritischen Diakoniegeschichtsschreibung untersucht, erklärt und bewertet. 2009 erschien als Resultat dieses Forschungsauftrags die Veröffentlichung:

  • Matthias Benad, Hans-Walter Schmuhl, Kerstin Stockhecke (Hgg.) Endstation Freistatt Fürsorgeerziehung in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel bis in die 1970er Jahre Bielefeld 2009. ISBN 978-3-89534-676-7 oderISBN 978-3-935972-27-7

Pastor Ulrich Pohl, Vorsitzender des Vorstands der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, schreibt in seinem Geleitwort:

„Zum ehrlichen Umgang mit unserer Geschichte gehört aber auch der selbstkritische Blick auf schwierige Zeiten und Schuldverstrickung. (…) Das vorliegende Buch eröffnet einmal mehr einen solch notwendigen und selbstkritischen Blick in unsere Geschichte. So ist die Aussage des Buches eindeutig: Die Fürsorgeerziehung in den 1950er und 1960er Jahren geschah auch in den Betheler Einrichtungen in einem System, das häufig von Gewalt, Einschüchterung und Angst geprägt war. Die eingangs genannten Werte Bethels wurden dadurch in ihr Gegenteil verkehrt. Es schmerzt, sich das eingestehen zu müssen. Und es zeigt, wie anfällig und verletzlich die Ideale Bethels sind, wenn es zur praktischen Umsetzung unseres Auftrags im Vollzug des Lebens kommt.

Es ist das Verdienst des Journalisten Peter Wensierski und engagierter ehemaliger Heimkinder, dass das Thema der Fürsorgeerziehung seit 2006 im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit ist. Als die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel vor gut drei Jahren mit dem Vorwurf konfrontiert wurden, es habe gerade in ihrer Einrichtung in Freistatt verschiedene Formen der Gewalt gegenüber Heimkindern gegeben, hat der Vorstand Bethels das Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der Geschichte der Fürsorgeerziehung in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse, die in dem vorliegenden Buch vorgestellt werden, bestätigen die erschütternden Erzählungen der Heimkinder zu einem großen Teil. (…)“[1]

Diakon Rainer Nussbicker beschreibt in seinem Beitrag Freistatt, Heimerziehung und die Westfälische Diakonenanstalt Nazareth die besondere Rolle und den prägenden Einfluss, den die Nazareth-Diakone bis in die 1960er Jahre in Freistatt ausgeübt haben[2]:

„Die Fürsorgeerziehung war nicht Bethels liebstes Kind, Zwang und Härte entsprachen den Betheler Leitbildern von Barmherzigkeit und liebender Zuwendung nicht so recht. Die Versuche, beide Seiten dennoch in Einklang zu bringen, wirken denn auch bemüht und angestrengt, wenn „christliche Liebe und strenge Zucht“ in einem Atemzug genannt werden. War das für die Anstalt Bethel ein Problem, so erst recht für die Diakonenanstalt, denn das Eintrittsmotiv der Hinwendung zu den „Elenden und Armen“ musste umgedeutet werden. Zwang und Härte im Umgang bis hin zur Züchtigung bedurften einer christlichen Legitimation. (…)Man wurde zu strafferen Erziehungsmethoden gezwungen, weil man die Jungen bekam, die keiner mehr haben wollte und an denen andere Heime bereits gescheitert waren. Das passte in zweierlei Hinsicht zum Betheler Selbstverständnis: Man nahm sich derjenigen an, die an anderen Stellen abgewiesen wurden, das war barmherzig. Die Erziehungsmethoden wurden nicht aus freien Stücken angewandt, sondern weil keine Alternative bestand.“[3]

Rainer Nussbicker kommt wegen der Beteiligung der damaligen Westfälischen Diakonenanstalt Nazareth an diesen Vorgängen zu einem Fazit:

„Eine ernüchternde Erkenntnis besteht darin, dass christlich begründete Organisationen (Personalgenossenschaften, diakonische oder caritative Werke) nicht per se davor gefeit sind, Strukturen hervorzubringen, die Demütigungen, körperliche Gewalt, Missbrauch und Vergewaltigung erzeugen können. Andererseits befördert die Berufung auf christlichen Glauben und christliche Werte den Anspruch, dass solche Vorgänge ausgeschlossen sind. (…) Da wo es um – persönlich empfundene, nicht zugewiesene – Schuld geht, bleibt letztlich keine Entschuldigung, sondern nur die Bitte um Vergebung.“[4]

Diakone aus der Stiftung Nazareth waren und sind auch bei Trägern tätig, die nicht zu den v. Bodelschinghschen Stiftungen Bethel gehören. In dieser Situation lag und liegt die Gesamtverantwortung für die jeweilige Einrichtung beim jeweiligen Träger. Wir bedauern, dass es auch in solchen Entsendungsverhältnissen zu Fehlverhalten von Diakonen gekommen ist.

Beispielhaft wurde dies auch in der "von Mellin'schen Stiftung Kinder- und Jugendhilfe Westuffeln" aufgearbeitet. Nähere Informationen hierzu finden Sie unter:

Auf Einladung von Präses Nikolaus Schneider, des damaligen Vorsitzenden des Rates der EKD, und des damaligen Präsidenten Johannes Stockmeier vom Diakonischen Werk der EKD fand am Sonntag, 11. September 2011, in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt ein gemeinsamer öffentlicher Akt statt, an dem auch die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und die Stiftung Nazareth teilnahmen:

Evangelische Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren – Bilanz und Verantwortung

In einer gemeinsamen Erklärung bekannten sich Präses Schneider und Oberkirchenrat Stockmeier zum Versagen der evangelischen Heimerziehung in den Nachkriegsjahren:

„Kinder und Jugendliche, die in den ersten Jahrzehnten nach Gründung der Bundesrepublik in Heimen schweres Leid erfahren haben, sind dadurch für ihr ganzes Leben geprägt. Allzu lange schwieg die Öffentlichkeit, schwiegen auch wir, zu diesem vielfach verdrängten Leid. (…) Heute sehen wir Missstände in evangelischen Heimen und Leid, das sie bei Betroffenen verursacht haben, deutlich. Gewalt wurde nicht selten als Mittel zur Durchsetzung erzieherischer Maßnahmen eingesetzt. Kinder und Jugendliche wurden oft mit dem Ziel, ihren Willen zu brechen, auf menschenunwürdige Weise erniedrigt. (…) Was in evangelischen Heimen an Fehlverhalten geschehen ist, steht deutlich im Widerspruch zu unseren christlichen Überzeugungen. (…) Im Namen der Evangelischen Kirche in Deutschland und im Namen des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland bitten Präsident Stockmeier und ich (Präses Schneider; R.N.) die betroffenen Heimkinder für das in evangelischen Heimen erfahrene Leid um Verzeihung.“[5]

In nachdrücklicher Weise schildert der Spielfilm „Freistatt“ die Lebenssituation von Jugendlichen in den fünfziger und sechziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland. Der Film gibt am Beispiel des Lebensweges von Wolfgang Rosenkötter Einblicke in die Erfahrungswelt von Jugendlichen wie sie auch in der Fürsorgeerziehung Freistatts gemacht wurden. Der Norddeutsche Rundfunk erstellte im Zusammenhang mit dem Kinofilm eine Dokumentation zur Fürsorgeerziehung in Freistatt.

Die Diakonie Freistatt hat im Gebäude des früheren Hauses Moorhort eine Ausstellung eingerichtet die ebenfalls Einblicke in die Lebenssituation von jungen Menschen in der Fürsorgeerziehung der fünfziger und sechziger Jahre gibt.

Nähere Informationen zum Film Freistatt und zur Ausstellung finden Sie über die nachfolgenden Links:

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[1] Matthias Benad u.a., Endstation Freistatt, S. 7f.

[2] Rainer Nussbicker, Freistatt und die Westfälische Diakonenanstalt Nazareth, in: Matthias Benad u.a., Endstation Freistatt, S. 217-254.

[3] Ebd., S. 225.

[4] Ebd., S. 249 u. 254.

[5] Erklärung von Kirche und Diakonie zur Situation von Kindern und Jugendlichen in evangelischen Heimen von 1945-1975 vom 11 September 2011.

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